Die Soziallehre der Kirche ist kein “System", kein wissenschaftliches Rezeptbuch, aus dem sich mit dogmatischer Strenge konkrete ökonomische oder politische Rechtfertigungen ableiten lassen. Ihre Aussagekraft liegt vielmehr im Maßnehmen sozialer Zustände an dem, was uns über den Menschen geoffenbart ist, und im Hervorkehren jener Werte, ohne die nach christlicher Auffassung sozialwissenschaftliche Theorie und gesellschaftspolitische Praxis nicht menschenwürdig sein künnen. Hierspannt sich der Bogen von Leo Xlll., dessen Kapitalismuskritik in »Rerum novarum« an Härte einem Karl Marx um nichts nachsteht, über die Forderung Pius XI. nach einer klassenfreien Gesellschaft in »Quadragesimo anno« bis zu »Octogesima adveniens« Pauls VI., der eine Gesellschaftsordnung fordert, in der »immer mehr Menschen an der Vorbereitung von Entscheidungen, an den Entscheidungen selbst und an deren Ausführung bereiligt werden«.
Für das gesellschaftspolitische Engagement jeglicher Art ist eine Auseinandersetzung mit der Soziallehre der Kirche unerläßlich; eine bloße Kenntnis der Dokumente reicht dazu nicht aus. Erst ein Verständnis des historischen Kontextes, des »Zeitkolorits«, sowie eine sachlachsystematische Aufschlüsselung der Texte vermag den Sinngehalt der lehramtlichen Äußerungen in vollem Umfang auszuschöpfen, Fehlinterpretationen zu vermeiden und die Bezugslinien der katholischen Soziallehre für die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion aufzuzeigen.